Mit Dr. Wolfgang Podehl, dem stellvertretenden Direktor und Nachlass-Experten der Hessischen Landesbibliothek Wiesbaden (HLB), geht es per Fahrstuhl hinauf ins Magazin. Hinter verschlossener Gittertür lagern Kostbarkeiten des Hauses: Inkunabeln, Rara, Handschriften und Autographen. In die beiden letztgenannten Kategorien gehört der bemerkenswerte Nachlass von Ludwig Jacobowski, einem heute kaum noch bekannten Autor aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
Seine Produktivität scheint unerschöpflich gewesen zu sein. Jacobowski verfasste Gedichte, Erzählungen, Romane, Dramen, Essays und Kritiken, war Herausgeber, Redakteur und Literaturförderer, verdiente sich seinen Lebensunterhalt als Mitarbeiter des „Vereins zur Abwehr des Antisemitismus“ und starb 1900 im Alter von nur 32 Jahren in Berlin. Dort hatte er 1899 den aus Künstlern, Schriftstellern, jungen Dichtern, Wissenschaftlern und Boheme bunt gemischten Klub „Die Kommenden“ gegründet, zu dessen Besuchern der blutjunge Stefan Zweig und die unstete Else Lasker-Schüler zählten.
Briefe der Brüder Mann
Im März 1891 schrieb aus Dresden der 20-jährige Buchhandelslehrling Heinrich Mann an Jacobowski: „Ich bin der kühnen Hoffnung, Ihnen nicht ganz unbekannt zu sein“, und schickte für eine geplante „antinaturalistische“ Anthologie mehrere Gedichte. Sein Bruder Thomas Mann, 1899 Redakteur des Münchner „Simplicissimus“, erbat von Jacobowski den Korrekturabzug seiner frühen Novelle „Luischen“. Sie erschien in der von Jacobowski herausgegebenen Halbmonatsschrift für Literatur, Kunst und Sozialpolitik „Die Gesellschaft“. René Maria Rilke, der seinen ersten Vornamen später gegen Rainer austauschte, widmete Jacobowski 1896 in „aufrichtiger, dankbarer Ergebenheit und Wertschätzung“ ein enthusiastisches Gedicht und Altmeister Wilhelm Raabe antwortete 1898 auf das freundliche Interesse des jüngeren Dichters an seinem Lebenswerk.
Zahlreiche Künstler
Mit den Autographen der Genannten sowie zahlreicher anderer, einst oder heute noch prominenter Autoren und Künstler wartet der Jacobowski-Nachlass in der Landesbibliothek auf. Man staunt über die Absender, auch wenn einem nicht bei jedem sofort etwas einfällt:
Detlev von Liliencron, Richard Dehmel, Arno Holz, Karl Kraus, Alfred Kerr, Frank Wedekind, Christian Morgenstern, Otto Julius Bierbaum, der Komponist Hans Pfitzner, der wie Alban Berg und Max Reger Gedichte Jacobowskis vertonte, und Rudolf Steiner, der Antroposoph und enge Freund des Dichters.
Aber auch romantisch-poetisierende junge Damen wandten sich, von ihrem Talent überzeugt, an Jacobowski. So etwa eine 21-Jährige aus Kassel, die sich „Amara Ambrosia“ nannte und für „ein natürlich entsprechend hohes Honorar“ den Abdruck ihres Maigedichtes in Jacobowskis Zeitschrift „gütigst“ gestatten würde. Insgesamt etwa 2300 Nummern umfasst die akribisch geführte Bestandskartei des Nachlasses. Außer den vielen Briefen, die Jacobowski vor allem in seiner Eigenschaft als Herausgeber empfing, enthält er von ihm aufbewahrte Manuskripte, Tagebücher, persönliche Dokumente und Zeitungsausschnitte.
Gegen Antisemitismus
Ludwig Jacobowski war Vertreter einer jungen jüdischen deutschen Intelligenz, die sich um die Wende des 19. Jahrhunderts gegen Antisemitismus und für Assimilation einsetzte. 1868 in Strelno/Posen geboren, übersiedelte er sechsjährig mit seinen Eltern nach Berlin, wo er lebte, arbeitete und starb. Auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee liegt er begraben. Wie kommt sein Nachlass nach Wiesbaden? Ungefähr Anfang der 1970er Jahre wurde die Sammlung durch Vermittlung des in New York lebenden Jacobowski-Biografen Fred B. Stern erworben. Stern hatte sie zwischen 1967 und 1969 nach jahrelangen Forschungen ausfindig gemacht. Unter dem Titel „Auftakt zur Literatur des 20. Jahrhunderts“ gab er 1974 einen Teil der im Nachlass enthaltenen Briefe, Karten und Mitteilungen als Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt heraus.
In seiner Vorbemerkung zu dieser zweibändigen, kommentierten Ausgabe erwähnt Stern die Hessische Landesbibliothek und ihren langjährigen, ehemaligen Direktor Franz Götting. „Herrn Dr. Götting ist es zu verdanken, dass die Bibliothek die Sammlung erworben und mir Asyl und Bearbeitungsrecht eingeräumt hat.“
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Quelle: Wiesbadener Tagblatt, 10.9.2003