Um die Gespenster des Kalten Kriegs zu wecken, genügen manchmal ein paar Karteikarten. Von der Stasi einst angelegt, von der CIA nach der Wende in der bis heute geheimnisumwitterten «Operation Rosenholz» in die USA geschafft, deuten diese Karteikarten nun auf eine mehrjährige Tätigkeit des Kölner Journalisten Günter Wallraff als ostdeutscher Einflussagent hin. Die Abteilung, die Wallraff als ihren Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) mit dem Decknamen «Wagner» registriert hatte, war eine schillernde Truppe im kleinen Reich von Markus Wolf, dem Chef der ostdeutschen Auslandspionage. Die «Abteilung X» der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) befasste sich mit der Beeinflussung der westlichen Öffentlichkeit und Desinformationskampagnen. Sie mischte Wahres mit Falschem, reicherte beispielsweise das Protokoll eines abgehörten Telefongesprächs des CSU-Vorsitzenden Strauss um brisante, aber frei erfundene Zitate an und lancierte ihre Phantasieprodukte in den nur allzu begierigen westdeutschen Medien.
Das Kennedy-Komplott
Die Idee, systematisch Desinformation zu betreiben, stammte eigentlich vom KGB, das schon in den fünfziger Jahren die sogenannte Linie A gegründet hatte. Der Buchstabe A stand für «aktive Massnahmen», den sowjetischen Euphemismus für Schmutzkampagnen aller Art. So versorgte man in den sechziger Jahren amerikanische Verschwörungstheoretiker mit Material über eine angebliche Verwicklung der CIA und rechtsextremer Kreise in die Ermordung Präsident Kennedys. Nicht erst heute stossen abstruse Theorien, die etwa hinter den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 das finstre Treiben der Geheimdienste wittern, auf Resonanz – und so konnte die New Yorker Residentur des KGB nach Moskau melden, welch guten Absatz die mit sowjetischem Geld bezahlten Broschüren und Bücher zum angeblichen Kennedy-Komplott fanden.
Auch die Stasi unterhielt in den fünfziger Jahren für Desinformation ein kleines Referat, damals noch als Anhängsel der auswertenden Abteilung. Sechs oder sieben Offiziere deckten mit Hilfe der von der Roten Armee erbeuteten Nazi- Archive die braune Vergangenheit westdeutscher Politiker und Magistraten auf. Manchmal erfand man kurzerhand eine einschlägige Belastung wie im Fall von Bundespräsident Lübke, den man als KZ-Baumeister verunglimpfte. Da das KGB die Stasi wie alle anderen Nachrichtendienste der Satellitenstaaten bedrängte, ihre Desinformations-Aktivitäten auszubauen, gründete man im Jahr 1966 in Ostberlin hierfür eine eigene Abteilung im Rahmen der HVA. Die bis zu ihrer Auflösung von Oberst Rolf Wagenbreth geleitete Abteilung wuchs auf 60 Mitarbeiter an, die zuletzt 100 fest angeworbene IM und noch einmal die gleiche Zahl von anderen Informanten hauptsächlich in der Bundesrepublik führten. Insgesamt hatte die HVA kurz vor ihrem Untergang je nach Zählweise 1500 bis 2000 Quellen im Westen. Nahezu alle sind inzwischen enttarnt worden.
Stasi-Pressedienst für die FDP
Die Informanten der Abteilung X waren oft Journalisten, die als Einflussagenten der SED genehme Berichte publizierten oder nach Ostberlin weitergaben, was sie bei ihren Recherchen etwa von Bonner Politikern erfahren hatten. Im Fall Wallraff erwecken die Unterlagen den Eindruck, dass der Kölner Autor in den sechziger Jahren ein kleines Rädchen einer Propagandamaschinerie war, die ein angebliches westdeutsches C-Waffen- Programm anprangerte. Nicht immer wussten Journalisten, von wem sie Material für ihre Artikel erhalten hatten, und die Liste der von der Stasi auf diese Weise versorgten Redaktionen liest sich wie ein «Who is who?» der linksliberalen Medienszene der Bundesrepublik. Die Abteilung X führte aber auch Politiker, Professoren und über einen Mittelsmann die Vereinigung «Generale für den Frieden», in der hohe Nato- Offiziere wie der westdeutsche General Bastian gegen den Nachrüstungsbeschluss der Allianz agitierten. Die umtriebige HVA-Abteilung gab über Strohmänner sogar Informationsdienste im Westen heraus: Eines dieser Blättchen beschäftigte sich mit dem Innenleben der FDP; ein anderes berichtete – gespickt mit Insiderinformationen – über Interna des Bundesnachrichtendienstes (BND).
Die Ignoranz im Westen
Wallraff war also kein Einzelfall. Ob der Autor ein regulärer IM war oder, wie von ihm behauptet, ohne sein Wissen abgeschöpft wurde, ist letztlich irrelevant. Als linker Kritiker der Bundesrepublik betrieb er über einige Jahre das Propaganda-Geschäft der DDR. Für die Abteilung X zählte nicht die formelle Verpflichtung, sondern der Erfolg in einer Grauzone der deutsch-deutschen Zweistaatlichkeit, in der sich Konfrontation und Kooperation auf eine selbst für Beteiligte nicht immer durchschaubare Weise vermischten. Erstaunlich an dieser Facette des kalten Kriegs ist allenfalls, wie lange sich die westliche Öffentlichkeit weigerte, sie zur Kenntnis zu nehmen.
Spätestens seit der tschechoslowakische Desinformations-Spezialist Ladislav Bittman 1968 übergelaufen war, wussten die westlichen Nachrichtendienste über die Praktiken der Gegenseite im Detail Bescheid. Das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz zeichnete in den achtziger Jahren faktenreich die Tätigkeit der Abteilung X nach. Doch in der Öffentlichkeit wurden entsprechende Berichte als Propaganda kalter Krieger abgetan oder als inopportun für die Entspannung zwischen Ost und West betrachtet. Zu dem von Bonn betriebenen (und über den engen Bereich der Desinformation hinausreichenden) «geheimdienstlichen Appeasement» gehört auch, dass die westdeutsche Politik Hemmungen hatte, es Ostberlin mit gleicher Münze heimzuzahlen. Während die DDR ihre Ständige Vertretung in Bonn zu einer Zentrale der HVA ausbaute, lehnte es die Bundesregierung aus Furcht vor diplomatischen Verwicklungen ab, von ihrer Repräsentanz in Ostberlin aus den BND operieren zu lassen.
Was hat die Desinformation bewirkt?
Im Jahr 1990 ging dann allerdings die DDR unter und nicht die Bundesrepublik – auch dies ist ein Teil der Geschichte der Abteilung X. Die Wirkung der ostdeutschen Desinformation blieb letztlich begrenzt, und dies nicht nur, weil sich das politische wie wirtschaftliche System der Bundesrepublik tagtäglich als überlegen erwies. Die meisten Operationen erzielten selbst in ihrem engeren Umfeld nur beschränkte Effekte. Die Propaganda gegen den Nato-Doppelbeschluss verhinderte die Nachrüstung nicht, die gezielt lancierten Artikel und Pressedienste vermochten letztlich wenig gegen das Übermass an objektiver Information auszurichten. Die Arbeit der Abteilung X ist daher ein Beispiel für das in den Spiegelkabinetten der Geheimdienstwelt nicht selten anzutreffende L'art pour l'art: kunstvoll eingefädelte Täuschungsmanöver, die dem Gegner nicht wirklich schaden.
Dies war einer der Gründe, weshalb der Bundesnachrichtendienst nach wenigen Gehversuchen in diese Richtung Anfang der achtziger Jahre auf ähnliche Kampagnen gegen den Osten verzichtete. Zum anderen setzt Desinformation eine unzensierte Presse voraus, die vermeintliche Enthüllungen zum Nachteil der eigenen politischen Eliten publizieren kann. So konzentrierte sich die im Bereich der «black propaganda» durchaus aktive CIA auf die Beeinflussung der Öffentlichkeit in freien und halbfreien Ländern; in Guatemala löste die CIA im Jahr 1954 mit einem angeblich von Rebellen betriebenen Radiosender einen Putsch aus. Hinter dem Eisernen Vorhang erzielte man dagegen die grösste Wirkung mit der Verbreitung wahrheitsgemässer Informationen.
Letzte Hochphase des Kalten Krieges
Kein Geheimdienst in Ost oder West arbeitet ohne Pannen, und so liest sich das Ende der Abteilung X wie ein skurriles Postskriptum zu vier Jahrzehnten Auslandspionage. Das unter anderem Wallraff belastende «Rosenholz»-Material mit Angaben zu allen Quellen der HVA im Ausland soll Anfang 1990 über KGB-Offiziere in Moskau nach Amerika gelangt sein, wie etwa der frühere Chef der Osteuropa-Aufklärung in der CIA, Milt Bearden, in seinem in diesem Jahr veröffentlichten Buch «The Main Enemy» behauptet. In anderen Versionen ist sogar davon die Rede, dass die russischen Mittelsmänner anschliessend unter mysteriösen Umständen zu Tode kamen. Die Wahrheit ist vermutlich prosaischer. Nach Überzeugung westdeutscher Nachrichtendienste kaufte die CIA die Dateien direkt von Mitarbeitern aus dem Stab des HVA- Chefs. Markus Wolf legte Wert auf flache Hierarchien und die Verwaltung von Agenten-Daten durch die unmittelbar sich damit befassenden Abteilungen. In den achtziger Jahren griffen in den Nachrichtendiensten des Ostblocks jedoch Bürokratisierung und eine regelrechte Paranoia um sich. Nach dem Nachrüstungsbeschluss war das KGB von der Idee besessen, die Nato plane einen Atomkrieg. Der Kalte Krieg erlebte eine letzte Hochphase. Die Leitung der Stasi wiederum witterte nach dem Überlaufen des HVA-Oberleutnants Werner Stiller in die Bundesrepublik im Jahr 1979 überall potenzielle Verräter in Wolfs Truppe. In der HVA verschärfte man die Sicherheitsbestimmungen und begann, heikle Daten zusätzlich im Stab zu verwalten. Obwohl die Stasi dank eigenen Quellen bei der Nato die Gefahr eines Nuklearkriegs für gering hielt, nahm auch hier die Militarisierung zu. Für den Kriegsfall wurden Agenten-Daten kopiert; dies vergrösserte den Kreis der Personen mit Zugang zum Allerheiligsten abermals.
Als dann der Ernstfall in Form der Wiedervereinigung eintrat, glaubte die HVA, sie habe als einziger Bereich der Stasi alle ihre Agentenverzeichnisse gelöscht. Doch inzwischen waren zu viele Kopien vorhanden, und so fanden schliesslich unter anderem die Daten der Abteilung X ihren Weg in westliche Hände. Die für ihre Professionalität bekannte HVA hatte sich zuletzt mit ihren eigenen Waffen geschlagen.
Quelle: NZZ, 10.9.2003