Ascherslebener Archivar im Gefängnis

Hans-Peter Nielitz ist ein rechtschaffener Mann. Dennoch scheint es ihm bestimmt, einen Teil seines Lebens im Knast zu verbringen. Kaum ist der Archivar dem ehemaligen Stadtgefängnis am Ascherslebener Grauen Hof entronnen, richtet er sich im ehemaligen Polizeigefängnis häuslich ein.

„Umzug von einem Knast in den anderen“ hieß es, als die Pläne, das ehemalige Untersuchungsgefängnis von 1894 umzubauen, öffentlich wurden. Nun, etwa anderthalb Jahre später, hat sich das jahrelang leer stehende Gebäude dank architektonischer Raffinessen und einer gründlichen Verjüngungskur zu einem schönen, aber schnörkellos funktionalen Haus gewandelt. Der neue Hausherr weiß hier vor allem das Plus an Platz zu schätzen. „Unsere Besucher wird es freuen“, weiß Nielitz, wenn er an die Vergangenheit denkt.

Denn im alten, engen Gebäude im Grauen Hof konnte stets nur einer in alten Unterlagen stöbern. Im neuen stehen gleich mehrere Plätze zum Arbeiten bereit. Das ist auch gut so, denn „die 1250-Jahr-Feier hat einen regelrechten Boom ausgelöst, dies oder das aus der Stadtgeschichte nachzugrasen“, erzählt der Mann, der selbst über sein Heimatforscher-Hobby zum Beruf fand. Ein weiterer Vorteil: War die umfangreiche Materialsammlung zuvor an mehreren Stellen in der Stadt verteilt, befindet sich jetzt alles unter einem Dach.

Bis sich der Archivar so richtig heimisch fühlt, wird es wohl noch eine Weile dauern. Noch finden die Schlüssel nicht wie von allein die richtige Tür, noch stoßen sich Knie oder Ellbogen an Geländer oder Tischkante. „Es ist einfach alles noch zu neu und ungewohnt“, so der Mann, der eigentlich schon seit März mit dem Umziehen befasst ist. 800 Umzugskartons warteten darauf, gefüllt zu werden. Mit tonnenschwerem Material – in der Summe betrachtet. Ein Kraftaufwand, der den Besuch in der Muckibude überflüssig machte. In den Kartons wohlverwahrt schlummern nun Urkunden, Plakate, Zeugnisse, Lohnunterlagen, Patientenkarteien, Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Bauunterlagen und Karten, Gesetzessammlungen, Fotos und vieles mehr. Das Goldene Buch der Stadt ist auch darunter, oder das Gästebuch der Junkerswerke, in dem sich beinahe alle Flugzeugkonstrukteure von Rang verewigt haben. Karton reiht sich an Karton, ein Bruchteil der insgesamt 4.000 Archivgutkartons stapelt sich schon ordentlich in den Regalen. Ein für den Laien schier unüberschaubarer Wust, durch den sich Hans-Peter Nielitz mit der Sicherheit eines Schlafwandlers manövriert.

All das Papier wartet nun darauf – nach vorsichtigem Transport mit speziell ausgerüsteten Fahrzeugen – einen endgültigen, sicheren Platz im neuen Heim zu finden. Die wertvollsten Urkunden – die älteste stammt immerhin aus dem Jahre 1211 – und die Fotosammlung werden in einem klimatisierten Raum gehütet wie in einem Gral. Denn: Temperaturschwankungen sind der ärgste Feind jeglichen Papiers. Ein halbes Jahr, so schätzt der Fachmann, wird es noch dauern, bis alles seinen rechten Platz gefunden hat. Ein großer Teil der Regale muss noch geliefert werden, in den nächsten Tagen sollen sie kommen. Das Zeitungsarchiv, das oft und gern genutzt wird, ist schon so gut wie komplett. Stolz stößt Nielitz die Tür einer ehemaligen Zelle auf. Hier liegen sie in Reih' und Glied – all die Bände mit abertausenden Seiten, die das Wohl und Wehe der Stadt seit 1819 begleiten.

Während Hans-Peter Nielitz stolz berichtet, dass das Archiv trotz der Umzieherei nicht einen Tag geschlossen war, hocken ABM-Frau Ilona Fanslau und Renate Etzel – sie arbeitet hier ehrenamtlich – vor dem Computer. Die Post ist wegen des Umzugs etwas ins Hintertreffen geraten. Anfragen müssen beantwortet, Termine vergeben werden. Die Mitarbeiter bitten um Verständnis, dass es in diesen Tagen ein wenig länger dauert als üblich. Das Telefon klingelt, Frau Etzel geht ran. Dann die Frage an den Chef: „Haben wir die Abschlusszeugnisse der 8. Oberschule?“ „Klar. Haben wir.“

Kontakt:
Stadtarchiv Aschersleben
Am Grauen Hof
06449 Aschersleben
Tel: 0 34 73/ 9 58-4 13
archiv@aschersleben.de

Quelle: Mitteldeutsche Zeitung, 6.9.2003

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.