Harry S. Truman, von 1945 bis 1953 dreiunddreißigster Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika war kein großer Tagebuchautor. Er war zwar durchaus willig, schrieb oft und eifrig lose Seiten mit seinen Erfahrungen und Betrachtungen voll, schaffte es aber nicht, sich zu einer konsequenten Tagebuchführung zu bringen.
Einige Lücken zumindest können nun gefüllt werden. In der Truman Library, dem ihm und seinem Nachlaß gewidmeten Gedenktempel in Independence in seinem Heimatstaat Missouri, wurde ein Tagebuch entdeckt, das in zweiundvierzig meist ausgesprochen schön geschriebenen Einträgen das Jahr 1947 durchmißt. Blau eingebunden, stand das Büchlein achtunddreißig Jahre lang unbeachtet auf dem Regal, weil es mit seinem Titel „The Real Estate Board of New York, Inc., Diary and Manual“ auf eine Immobilienlobby verweist, die das Diarium dem Präsidenten zum Geschenk gemacht hatte. Auf den ersten hundertundsechzig Seiten gibt es neben viel Werbung nur über die Organisation und deren Mitglieder Auskunft. Erst danach fangen die Tagebuchseiten an, auf die ein Bibliothekar beim Umräumen stieß.
Obwohl 1947 als Schlüsseljahr der Regierung Truman gilt, werden Historiker nur mit Maßen auf ihre Kosten kommen. Weder erfahren sie etwas über die Entstehung der Truman-Doktrin, die eine Ausdehnung des kommunistischen Machtbereichs zu verhindern trachtete, noch über den mit ihr verknüpften Marshallplan für den Wiederaufbau Westeuropas. Statt dessen ist nachzulesen, wie Truman sein Herzasthma geheimhielt, wie er mit dem Tod seiner Mutter zurechtkam und wie er sich bei Lady Astor unbeliebt machte. Allerdings wird nun ein Verdacht bestätigt, den Truman immer auszuräumen suchte. Offenbar sagte Dwight D. Eisenhower doch die Wahrheit, als er behauptete, Truman habe ihn seinerzeit ermuntert, die Präsidentschaft anzustreben, um damit der potentiellen Kandidatur eines anderen Kriegshelden, des den Republikanern nahestehenden Generals Douglas MacArthur, zu begegnen. Truman selbst wollte dem Weißen Haus, in dem er sich wie in einem „großen weißen Gefängnis“ fühlte, den Rücken kehren, seinem Freund Ike jedoch als Vizepräsident zur Verfügung stehen.
Der widerwillige Präsident, der nach dem Tode Franklin D. Roosevelts 1945 vom Amt des Vizepräsidenten nachrücken mußte, war es leid, unter wenig Zuspruch der Bevölkerung gegen einen republikanischen Kongreß anzukämpfen. Von General MacArthur aber, der ihm nach seinen pazifischen Siegen einen „Überlegenheitskomplex“ zu haben schien, wollte er sich nicht verdrängen lassen. Alles überflüssige Sorgen. Eisenhower lehnte ab, und auch MacArthur mochte nicht für die Gegenseite antreten. Truman hielt noch einmal vier Jahre durch, bis Eisenhower ihn 1953, diesmal aber als Republikaner, aus dem Gefängnis an der Pennsylvania Avenue befreite. Zuvor gelang es Truman noch, MacArthur den Laufpaß zu geben und ihn von all seinen militärischen Pflichten im Korea-Krieg zu entbinden.
Viel brisanter jedoch ist eine zweite Passage, so schockierend, daß sie in ersten Berichten der „Associated Press“ und „New York Times“ gar nicht erwähnt wurde. Nach einem Gespräch mit Henry Morgenthau, dem Finanzminister a.D. und Anwalt für eine gestrenge Behandlung Nachkriegsdeutschlands, schrieb Truman unter dem Datum des 21. Juli 1947: „Die Juden, finde ich, sind sehr, sehr selbstsüchtig. Sie bewegt es nicht, wie viele Esten, Letten, Finnen, Polen, Jugoslawen oder Griechen ermordet oder als DP (Displaced Persons) mißhandelt werden, wenn sie nur als Juden ihre besondere Behandlung bekommen. Wenn sie aber Macht besitzen, ob physischer, finanzieller oder politischer Art, haben ihnen weder Hitler noch Stalin an Grausamkeit oder schlechter Behandlung des Underdogs etwas voraus. Kommt ein Underdog nach oben, spielt es keine Rolle, ob er den Namen eines Russen, Juden, Negers, Unternehmers, Arbeitnehmers, Mormonen, Baptisten trägt – er dreht durch. Ich habe sehr, sehr wenige gefunden, die sich, wenn der Wohlstand kommt, ihrer früheren Verhältnisse erinnern.“
Trumans Tirade gegen die Juden hat Befremden hervorgerufen, galt er doch bisher als einer ihrer großen Fürsprecher. Immerhin hatte er die Anerkennung des Staates Israel gefördert, als sein Außenministerium sich noch dagegen aussprach. Das hat ihn zumindest in den ersten Augenblicken nach der Entdeckung des Tagebuchs davor geschützt, als Antisemit gebrandmarkt zu werden. Eher werden seine Äußerungen einer Geisteshaltung zugeschrieben, die damals noch keine allzu ausgeprägten Empfindlichkeiten einkalkulieren mußte, um mit ihren Vorurteilen gesellschaftlich akzeptabel zu bleiben. Jeder amerikanische Präsident muß damit rechnen, daß keine Zeile von ihm verlorengeht. Auch das würde die Annahme bestätigen, Truman habe sich nicht privat demaskiert, sondern verbreiteten, damals noch nicht tabuierten Ressentiments Ausdruck verliehen. Heute wird die Debatte wohl kaum zu vermeiden sein.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.07.2003, Nr. 162 / Seite 33.