Berlin. Das Ringen um die juristische Bewertung von Aktenschwund und Datenlöschung im Kanzleramt unter Helmut Kohl hält an. Dabei verdichten sich, wie Die WELT am 1. Juli nochmals betont, die Hinweise darauf, dass die Bonner Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren in dieser Sache endgültig einstellen wird. Die jüngste Stellungnahme des Bundeskanzleramts, das seit Jahren eine strafrechtliche Bewertung der Vorgänge verlangt, bietet offenbar keinerlei neue Ermittlungsansätze (siehe Bericht). Die Einstellung des Verfahrens kann sich jedoch aufgrund der Abordnung eines der beiden zuständigen Staatsanwälte noch hinziehen, ebenso die Begutachtung der 42-seitigen Stellungnahme der Regierung.
Die Bonner Ermittler hatten Ende März festgestellt, dass sie weder Anhaltspunkte für eine Straftat noch Erkenntnisse über mögliche Straftäter haben. Zwar stellten sie – wenn auch in weitaus geringerem Umfang als Schröders Kanzleramtschef Franz-Walter Steinmeier und Regierungsvorermittler Burkhard Hirsch – das Fehlen von Akten und auch Datenlöschungen fest. In fünf von sieben Komplexen, die angeblich von Aktenvernichtung oder Datenlöschung betroffen waren, signalisierte auch das Bundeskanzleramt im Juni, dass es einer Einstellung nichts mehr entgegensetze.
Dabei geht es inzwischen nicht mehr um Strafrecht, sondern um Politik. Ginge es nach der Bundesregierung, sollten zumindest die Vorwürfe „Datenlöschung“ und „Aktenvernichtung Leuna“ von den Staatsanwälten als Straftat festgestellt werden, was diese aber nicht tun. Probleme hat die Bundesregierung demnach nicht mit der Einstellung des Verfahrens an sich, sondern damit, dass die Staatsanwälte noch nicht einmal die behaupteten Straftaten erkennen können. Generalstaatsanwalt Linden sagt, es sei nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaften „zu dokumentieren, was unterhalb der Schwelle eines Anfangsverdachts geschehen ist – und auf diese Weise historische Archive zu füllen“. Allerdings sagt er zugleich, denkbar sei auch, „dass erhebliche Verdachtsmomente bleiben können, der Anfangsverdacht aber nicht zum hinreichenden Tatverdacht erstarkt ist“. Sollen die Vorgänge jetzt in dieser schmalen Grauzone verortet werden? Der politische Druck auf die Staatsanwaltschaft ist enorm. Er wird durch Medienberichte erhöht, in denen etwa nie Behauptetes lautstark widerlegt wird. Etwa, wenn Generalstaatsanwalt Linden mit der Äußerung zitiert wird, es sei Fakt, dass es zum Zeitpunkt des Regierungswechsels 1998 Datenlöschungen gab und dass Akten fehlen. Nichts anderes hatten auch seine Staatsanwälte in Bonn festgestellt, zuletzt in ihrem 204-seitigen Abschlussvermerk. Der lag über einen Monat auf Lindens Schreibtisch, bevor er Ende März die Behörde offiziell verließ.
Sollten sich die Verdächtigungen, die sich teilweise gegen einzelne Kanzleramtsmitarbeiter richteten, als haltlos erweisen, könnte das gesamte Verfahren für das Kanzleramt nach hinten losgehen. Besonders die beiden Hauptrechercheure Steinmeiers, die Kanzleramtsreferatsleiterin Margarethe Sudhoff und der Jurist Burkhard Hirsch, könnten unangenehme Fragen beantworten müssen, die vor dem Hintergrund des Verdachts falscher Verdächtigung aufkommen könnten.
Quelle: Die WELT, 1.7.2003.