Füssen. Er hatte es sich so schön vorgestellt: mit einem Pfauenwagen wollte er über den Alpsee fliegen, nachdem er in der Leipziger Illustrierten Zeitung eine Skizze des Dampf-Schwingen-Flugzeugs von Joseph Kaufmann gesehen hatte. Doch das ist nur ein Traum geblieben, nachdem Kaufmann seine „Taube“ nie zustande gebracht hat. Viel ernster war da schon der Plan einer Flugseilbahn, mit der König Ludwig II. vom Hof des Schlosses Neuschwanstein direkt in die Sperbersau schweben wollte.
Ludwigs Visionen, für die er so of gescholten wurde, und die technischen Neuerungen, die er eingeführt hat, sind derzeit in einer Ausstellung in Füssen zu sehen. Sie wurde gestern an seinem 117. Todestag – in den Räumen des städtischen Museums im Benediktinerkloster St. Mang eröffnet und dauert bis zu seinem Geburtstag am 25. August. Ludwig II. war mehr als der kunstbesessener Märchenkönig, der schillernde, versponnene Visionär, der von einer besseren, einer friedlicheren, einer menschlicheren Welt träumte. „Er hat auch viel für die Technikentwicklung getan“, sagt Jean Louis Schlim, „viel mehr als gemeinhin bekannt ist“. Der gebürtige Luxemburger Schlim arbeitet im Hauptberuf beim TÜV Südbayern als Archivar, ganz nebenbei aber hat er sich über die Jahre zum Experten in Sachen „Ludwig und Technik“ entwickelt. Angefangen hatte alles mit ein paar alten Dokumenten, die Schlim vor 25 Jahren in die Hände gefallen waren; darunter eine Mitteilung an den bayerischen König, dass er eine Dampflok in Betrieb nehmen darf.
Die Dampfmaschine war ohnehin die beste technische Errungenschaft zu Ludwigs Zeiten. Mit ihr konnte er viele seiner Träumereien und Phantasien verwirklichen. Die Idee eines Kraftwerks für das Schloss Linderhof zum Beispiel. 1875 hatte er sich und seinen Schwänen eine Tropfsteinhöhle beim Schloss errichten lassen. Erst drei Jahre später aber wurde die Illusion durch die neue Elektrizitätstechnik vollkommen: 24 Trafos speisten – angetrieben von einer Dampfmaschine – 24 Bogenlampen. Nur die Farbe der Beleuchtung, ein strahlendes königsblau, konnten die Bauleute dem König nie recht machen.
Bald schon gab es auf jeder Baustelle des Königs eine Dampfmaschine. Praktische, gleichzeitig aber auch hochgefährliche Helfer, die immer wieder in die Luft flogen. 1870 dann gründete sich der Bayerische Dampfkessel-Revisions-Verein, der heutige TÜV. Und Ludwig war sein erster Kunde.
Alte Skizzen sind in der Füssener Ausstellung zu sehen, vergilbte Schriftstücke, verblichene Fotos: von der hochmodernen Marienbrücke über Pöllathschlucht, den Wasserspielen und der Heizanlage in Linderhof; Modelle des Schlosses Neuschwanstein gibt’s zu sehen, provisorische Flugmodelle, Glühlampen, Stecker aus den Zeiten Ludwigs. Vieles aber, sagt Jean Louis Schlim, ist längst verloren. Zum Beispiel sämtliche Dampfmaschinen. Oder der alte Küchenaufzug im Schloss Neuschwanstein, der erst vor ein paar Jahren ausgebaut worden ist. Dabei war es der erste Speisenaufzug Deutschlands gewesen.
Ausstellung: Ludwig II. – „Traum und Technik“
Info Stadt Füssen
Ort: Museum der Stadt Füssen (ehem. Kloster St. Mang, Refektorium)
Dauer: 13.06. – 25.08.2003
tägl.: 10.00 – 17.00 Uhr, außer Montag
Weitere Infos unter: www.koenigswoche.de
Quelle: Augsburger Allgemeine, 15.6.2003.
Rettungsaktion von gefluteten Bildern bei der Sächsischen Zeitung
Als im August 2002 die Wassermassen von Weißeritz und Elbe das Archiv der Sächsischen Zeitung fluteten, schien eine der größten Fotosammlungen in Sachsen verloren. Doch jetzt wird gerettet, was damals den Fluten nicht mehr entkommen konnte. Eine in ihrer Art beispiellose Aktion hat begonnen:
Ein eiskalter Hauch weht heraus. Der Container steckt voller Frost. Knarrend öffnet Michael Studer die Tür vollends. Müllsäcke türmen sich dahinter und Pappkisten bis unter das Dach. Der Inhalt ist dreckig – und wertvoll. Es ist das Bildarchiv der Sächsischen Zeitung, untergegangen im August letzten Jahres. Unwiederbringliche Aufnahmen aus vier Jahrzehnten DDR-Alltag liegen dort dick eingebettet im Elbeschlamm.
Michael Studer wirft einen prüfenden Blick in die Runde. „Okay, die Temperatur stimmt.“ Minus 19 Grad zeigt das Kühlschrankthermometer. „So halten es die Bilder noch Monate aus“, sagt er gelassen. Michael Studer studiert eigentlich Restaurierung an einer Spezial-Fachhochschule in Bern. Nun aber leitet er für ein halbes Jahr ein Großprojekt, wie es dies so noch nie gab. 150 000 Fotos sollen jetzt, ein Jahr nach der Flut, aus dem Wasser gerettet werden.
Dem Restaurator sitzt die Zeit im Nacken. Er eilt in die Halle nebenan und schleppt erst einmal Alkohol heran für seine Leute. „Damit die was zu tun haben“, sagt er. Ohne Äthanol läuft hier gar nichts. Der Alkohol wischt von den Fotos weg, was die Fluten draufspülten.
Warten bis das Wasser geht
Als sich im August letzten Jahres das Wasser den Weg in die Kellerräume der Sächsischen Zeitung bahnte, kam jeder Rettungsversuch zu spät. Die Gummistiefel waren längst voll. Das Licht flackerte schon, als Archivchefin Ute Essegern kurz vor vier Uhr morgens den Keller als Letzte verließ. Kurz danach kam die Weißeritz. Nicht einmal das, was im oberen Regal lag, überstand. „Wir konnten nur zehn Prozent der Fotos retten“, berichtet Ute Essegern. Der Rest lag in einer dunklen, stinkenden Brühe, die es auch aus der Kanalisation hereingedrückt hatte. Bis in die nächste Etage reichte das Wasser – und blieb. „Wir hatten das alles 190 Stunden unter Wasser“, berichtet Essegern. „Stunden“ sagt sie; wenn es um Wasser geht, dann zählen Archivare keine Tage.
Maximal 90 Stunden halten das die Fotos aus, wie wissenschaftliche Langzeitstudien gezeigt hatten. „Das wird eine neue Langzeitstudie, sagt die Archivleiterin inzwischen lachend. Lachen konnte sie zur Ortsbegehung damals, als das Wasser wich, ganz und gar nicht. Ziemlich mies habe sie sich gefühlt, erinnert sich Ute Essegern heute, und möchte wohl am liebsten „beschissen“ dazu sagen. Der Blick ins bis dahin zweitgrößte Bildarchiv Sachsens – ein einziges Drama. 750 000 Fotos beherbergte es.
Während die Zeitungen hoffnungslos verloren als dicker Brei um die Knöchel waberten, waren die Fotos wenigstens noch als Fotos zu erkennen. Und wieder waren es die Stunden, die zählten. Jede einzelne. Ein Tag wäre ausreichend gewesen, und verheerender Schimmel hätte die Vernichtung zu Ende gebracht. Die SZ-Mitarbeiter und Helfer im Haus der Presse waren schneller.
Erst frosten, dann denken
Ein Kühlhaus in Cottbus hatte neben Tiefkühlgemüse und Fleisch noch ein paar Kubikmeter Platz. Ab in die Kälte damit. Ein halbes Jahrhundert lag damit bei minus 20 Grad auf Eis. Erst einfrosten, dann bleibt immer noch Zeit zum Nachdenken, dachten sich die Archivmitarbeiter damals. Ob sich aus den Tüten jemals etwas Brauchbares herausholen lässt, sie konnten es nur hoffen gegen alle Logik und Erfahrung.
Doch der Coup gelang. Die Mülltüten und Kisten hat nun der Restaurator Michael Studer mit seinen acht Leuten vor sich. Anfang Mai begann ein Großprojekt, wie es bisher für die Restaurierung beispiellos ist, berichtet er. Es wird ihm durchaus auch so manchen Ärger mit seinen Professoren einbringen. „Das eine ist die Lehrmeinung, was wir hier machen die Praxis“, sagt er nicht ohne erkennbaren Stolz. Einen Monat hat er am zunächst empfohlenen Restaurierungsverfahren herumexperimentiert, dann stand sein Konzept. Jetzt taugt es für die Massenrestaurierung, wie er es nennt. „Bräuchten wir für jedes Foto nur zehn Sekunden länger, dann wären das schlussendlich zehntausende Euro zusätzlich“, sagt Studer im besten Schweizer Dialekt.
Ginge es nach den etablierten Verfahren der Museumswissenschaft, dann käme das ganze Archiv auf den Müll – unrettbar, weil unbezahlbar. „Man kann nicht jedes Foto wie einen Kunstschatz behandeln“, sagt Studer. Und so bleibt ihm nur das Nötigste zu tun: Die Bilder werden gereinigt und konserviert. Sie werden wieder benutzbar.
„Die hatten Glück“, sagt Studer kurz abwägend ob er das so sagen darf. „Die haben Glück, dass sie die Fotos nicht nach Vorschrift gelagert hatten.“ In Paketen waren sie aus Platzmangel eng zusammengepresst bis zu hundert Stück, da hatten Schlamm und Strömung keine Chance. Nur die Ränder litten, und das Wasser hat die Gelatineschicht „gestresst“, wie Studer es nennt.
Ein Dutzend Schalen stehen nun auf dem Tisch im Labor. Rasierpinsel und Spatel liegen gleich daneben. Sie bekommen in diesen Tagen einen neuen Sinn. Als Schmutzbürste und Hebel, der die eben aufgetauten Fotos voneinander trennt. Die kleben fest aneinander. „Haften heißt das“, kommt prompt die Belehrung vom Fachmann. Aus einem muffelnden dreckigen Klumpen tauchen jedenfalls scheibchenweise Fotos auf – oder solche, die es mal wieder werden sollen. „Ostdeutschland, Hochwasser und Katastrophen“ steht auf einer der aufgeweichten Pappmappen. Deren Bilder liegen gerade im Alkoholbad. Nach vier Bädern sind die meisten Fotos wieder „in einem unglaublich guten Zustand“, berichte Studer.
Warum sich die Dresdner Fotos nicht wie erwartet einfach aufgelöst haben, das will er unter anderem in seiner Diplomarbeit untersuchen, an Fasern und Gelatinen. An Schichten und Pigmenten. Mit dem Mikroskop schaut Studer dann in die Struktur der SZ-Fotos. Auf Biegen und Brechen testet er sie im Berner Labor. Vielleicht, so seine Hoffnung hilft das ja anderen Archiven. „Wasser gibt es schließlich überall.“ Auch andere Experten interessieren sich für die tiefgekühlten Klumpen aus Dresden, berichtet der Restaurator. Mogens S. Koch aus Kopenhagen hat sie geordert. Der Professor will es mit dem Gefriertrocknen probieren, was bislang nur bei Büchern gelang. Koch war ebenso wie die Experten aus Bern und Berlin überrascht, was in Dresden noch alles vorhanden war, berichtet Archivleiterin Essegern. Das Expertengutachten gab dem Projekt grünes Licht. Es überzeugte.
50 Jahre werden gewaschen
Ein Stück des DDR-Alltags und auch eine Fotosammlung aus der Nazizeit können geborgen werden. Ein kulturhistorischer Wert, wie Ute Essegern schwärmt. „Aber noch haben wir keinen genauen Überblick. Das wissen wir erst, wenn alles aufgetaut ist.“ Vor wenigen Tagen kam in so einem blauen Müllbeutel die Mappe des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953 hervor. Gerade noch rechtzeitig für die geplante Berichterstattung der SZ. Viel öfter allerdings läuft es leider ganz anders, berichtet Archivmitarbeiter Holger Naumann. Immer dann ärgert er sich besonders, wenn Tage zuvor die Redaktion vergebens ein Foto gesucht hatte und dieses dann kurz darauf in der Alkohollösung auftaucht. Gestern waren dies uralte Bilder von Dynamo Dresden. Die hätte die Sportredaktion vor wenigen Tagen dringend gebraucht, als der Fußballklub 50 Jahre wurde. Wenigstens liegen diese Fotos nun schon im Sandwich: Fotos, Fleece, Löschpapier und Holzplatten geben ein Paket. Mindestens zwei Wochen trocknet das restaurierte Archivgut darin. In drei Tagen nun kommen die ersten restaurierten Fotos wieder in ihre Archivmappen. Die stehen diesmal ein Stockwerk höher.
Restaurierungsprojekt
Im Archiv der SZ und der Morgenpost lagerten einmalige Zeitungen, Fotos und Bücher. 2.000 Meter Archivgut standen im Keller. Tausende Zeitungsbände sind vernichtet.
750.000 Fotos wurden überflutet. Ein Zehntel nur konnte zuvor gerettet werden. Weitere 60 Prozent wurden nass aus dem Chaos geborgen. 30 Prozent sind verloren.
Alle einmaligen Motive von SZ-Fotografen und aus historischen Sammlungen werden jetzt restauriert. Agenturbilder, die es noch andernorts gibt, hingegen nicht.
Die Rettung der Fotos geschieht in Kooperation mit Dresdner Archiven. Eine internationale Forschergruppe hatte zuvor die Machbarkeit der Restaurierung nachgewiesen.
Quelle: Sächsische Zeitung-Online vom 28.5.2003.
»Kultureller Supergau« im Irak
Interpol-Experten widersprachen den Angaben des amerikanischen Justizministers John Ashcroft, Plünderungen und Raub von Kulturgütern im Irak seien das Werk von „Verbrecherbanden“ und nicht das von einzelnen Tätern gewesen. „In den meisten Fällen“ seien die geraubten Gegenstände „in den Händen gewöhnlicher Leute, die über keinerlei Verkaufs-Netzwerk verfügen“, sagte Interpol-Spezialagent Jean-Pierre Jouanny einem FAZ-Bericht zufolge. Nun müsse an die Bevölkerung appelliert werden, damit die Räuber die Kunstschätze zurückgäben. Die Unesco wählte bereits Mitglieder einer Expertengruppe für eine Irak-Mission aus. Und bei einer Interpol-Konferenz vereinbarten rund 70 Fachleute von Interpol, Unesco und Internationalem Museumsrat (Icom), die Interpol-Datenbank gestohlener Kulturgüter bedeutend zu erweitern. Die Experten bemühen sich, für Polizei, Zoll und den internationalen Kunsthandel möglichst viele Informationen über die Kulturschätze zusammenzutragen.
Wenngleich es, so aus dem irakischen Nationalarchiv, Hinweise darauf gibt, dass viele Kulturschätze des Irak unversehrt und intakt geblieben sind, liegt noch keine Bestandsaufnahme darüber vor, welche Schäden der Krieg und vor allem die Brandschatzungen und Plünderungen danach angerichtet haben.
Islamische Geschichtsquellen verbrannt
Durch die vollkommene Zerstörung der Bibliothek des Ministeriums für Religiöse Angelegenheiten sind, einem Bericht der FAZ vom 7. Mai zufolge, die wichtigsten Quellen für die islamische Geschichte des Irak verloren. Nur ein unbedeutender Rest der Manuskripte und Bücher konnte vor den Flammen gerettet werden. Hinzu kommt, dass es von diesen Quellen keine Abschriften oder gar Mikrofilme gab. Neben den Gebäudekomplexen des Ministeriums in der Hauptstadt sind aber auch viele Moscheen im Lande von Plünderern und Brandstiftern heimgesucht worden. Auch hier lagerten wertvolle Manuskripte.
Warnungen der UNESCO
Angesichts zahlreicher Zerstörungen am kulturellen Erbe des Irak, warnte am 15. April der Generaldirektor der UNESCO, Koïchiro Matsuura, vor Verwüstungen und Verheerungen der Bibliotheken und Archive im Lande. Dies würde irreparable Folgen für die kulturelle Überlieferung und Identität des Landes nach sich ziehen. „Ich wiederhole meinen dringenden Aufruf, rasche Maßnahmen zum Schutz und zur Bewachung der irakischen Kultureinrichtungen, insbesondere der Bibliotheken und Archive, einzuleiten“, erklärte Matsuura in Paris (Link). „Bibliotheken, Archive und Schriftgut müssen als wesentlichen Bestandteile des reichen Erbes des Irak gesichert werden. Fast zwanzig Jahrhunderte niedergeschriebener Menschheitsgeschichte sind in Gefahr; es muss alles Erdenkliche getan werden, diese Güter vor Plünderung und Zerstörung zu bewahren“, sagte Matsuura. Er fügte hinzu, dass auch Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die behördliche Aktenüberlieferung in den Archiven zu schützen, nicht zuletzt, da sie lebensnotwendig für das Funktionieren der öffentlichen Verwaltung nach dem Kriege sei, sowie für den Nachweis von juristischen, finanziellen und vertraglichen Besitzständen der irakischen Bevölkerung. – Die UNESCO versucht über ihr Programm „Memory of the World“ an führender Stelle auf den Schutz der schriftlichen Überlieferung in gefährdeten Bibliotheken und Archiven hinzuwirken und hat Richtlinien entwickelt, die im Falle bewaffneter Konflikte zum Schutz der Archive greifen sollen. Am 17. April hat die UNESCO in Paris sodann eine Konferenz mit internationalen Experten über den Schutz der irakischen Kulturgüter durchgeführt (vgl. dazu die verschiedenen Informationen der UNESCO zum bedrohten kulturellen Erbe des Irak).
Aufruf des Auswärtigen Amtes
Nach den Plünderungen im Bagdader Nationalmuseum hat auch Bundesaußenminister Joschka Fischer dazu aufgerufen, weitere Verluste und Beschädigungen am irakischen Kulturerbe zu verhindern. Es müsse sicher gestellt werden, dass gestohlene Objekte aus dem Irak keine Käufer finden und dem Nationalmuseum zurückgegeben würden, sagte der Grünen-Politiker laut dpa. Deutschland sei bereit, sich an der Bewahrung der irakischen Kulturgüter zu beteiligen. Besonders das Deutsche Archäologische Institut könne wegen seiner langen Erfahrung im Irak einen wichtigen Beitrag dazu leisten (Auswärtiges Amt-Infos zum Irak).
Museumsbund und ICOM fordern Schutz vor Plünderungen
Die Plünderungen und Zerstörungen im irakischen Nationalmuseum kommen nach Ansicht des Deutschen Museumsbundes einem „kulturellen Supergau“ gleich. In einem von so langer Hand geplanten Krieg hätten die alliierten Truppen eine Plünderung verhindern können und diese Kulturinstitution schützen müssen, betonte der Präsident des Museumsbundes, Martin Roth. „Dieser Krieg hat zwar die Sicherung der Ölvorräte berücksichtigt, aber die kulturelle Wiege der Menschheit nicht einbezogen.“ Der Museumsbund und weitere Verbände wie das Nationalkomitee des Internationalen Museumsrates (ICOM) forderten die Sicherheitskräfte im Irak dazu auf, mit allen Mitteln weitere Plünderungen und Zerstörungen oder Verschleppungen von Kulturgut zu verhindern. Ein Verkauf der wertvollen Objekte über den internationalen Kunsthandel hätte katastrophale Folgen. Die Verbände warnen Museums- Verantwortliche, Händler und Sammler vor dem Erwerb von Kunstschätzen aus dem Irak. „Diebstahl, Raub und illegaler Handel mit irakischem Kulturgut sind Vergehen an bedeutendem und unersetzlichem Weltkulturerbe“, betonte Hans-Martin Hinz, Präsident von ICOM-Deutschland (vgl. auch die Pressemitteilung des Deutschen Museumsbundes und ICOM-Deutschland vom 15.4., hier als pdf-Datei).
Siehe zum Thema auch weitere ARCHIV.Net-Nachrichten vom 14. April sowie vom 18. April.
Im Archiv der KP Spaniens verstauben Fotos – wahrscheinlich von Robert Capa
Madrid. Weil der Blick zurück noch schmerzt, bleiben die dunklen Kapitel der jüngeren spanischen Geschichte bis heute aus der öffentlichen Debatte weitgehend ausgespart. Abgesehen von vereinzelten Ausstellungen und Publikationen, haftet der Beschäftigung mit Bürgerkrieg und Franco-Diktatur seit dem Schweigegebot der Demokratisierung der Ruf des Tabubruchs an. Unterdessen lagern Hunderttausende Bild- und Tonzeugnisse in den Archiven von Parteien und Stiftungen sowie in privaten Sammlungen.
Einer der besonderen Schätze befindet sich im Archiv der Kommunistischen Partei (PCE): Eine Sammlung von 1.338 Negativen aus dem Bürgerkrieg (1936-1939), mutmaßlich von dem berühmten Kriegsreporter Robert Capa. Wann und wie sie an die PCE gelangte, die ihr Archiv während der Diktatur ins Ausland verlagern musste und erst 1977 wieder zugelassen wurde, ist strittig, ebenso wie ihr Wert. Die entwickelten Negative sind von außerordentlicher ästhetischer sowie handwerklicher Qualität: Frontszenen, Kundgebungen, Feldlager, Leichenhallen, Porträts, Aufmärsche, Propagandaplakate der republikanischen Streitkräfte und der Internationalen Brigaden – alle diese Capa-Themen finden sich hier wieder, und das Frappierende daran ist: Die Aufnahmen entstanden vielfach mit der gleichen Kamera (Leica mit 35 mm-Objektiv), an denselben Orten und zur selben Tageszeit wie die autorisierten Capa-Bilder. Manche Fotos zeigen sogar dieselben Motive nur wenige Augenblicke zeitlich von offiziellen Capa-Fotos versetzt. „Wenn es nicht Capa selbst war, dann doch jemand, der dieselbe Kamera hatte und sich stets in seiner Nähe befand wie seine Freundin Gerda Taro oder sein Kollege David 'Chim' Seymour“, sagt die Archivarin Victoria Ramos.
Der ungarische Jude Capa, bürgerlich André Friedmann, hatte sich gerade durch Spanien einen internationalen Ruf erworben. Sein Foto eines tödlich getroffenen Milizionärs für die französische Zeitschrift „Vu“ machte den 1913 in Budapest geborenen Autodidakten über Nacht berühmt. Erstmals in der Kriegsreportage galt der Blick des Mannes mit dem Leitsatz: „Wenn das Foto nicht gut genug, ist, dann war ich nicht nahe genug dran“ nicht den Uniformen, Aufmärschen und Schlachtszenen, sondern vor allem dem Menschen hinter der Waffe und den Zivilisten hinter der Front. Das brachte seinen Arbeiten auch die Honorare ein, die er zuvor durch den Marketing-Schwindel seines Pariser Zwei-Mann-Studios ergaunerte: Zusammen mit der Polin Taro – bürgerlich Pohorylles – als Sekretärin entwickelte sein kleines Labor angeblich nur die Aufnahmen eines berühmten amerikanischen Fotografen Robert Capa. Nach der Enthüllung wurde der Name zum Pseudonym und seine Arbeiten aus Spanien – wo Taro im Juli 1937 von einem Panzer überrollt wurde -, seine Fotos von der US-Invasion in der Normandie, aus Indochina, wo der Fotograf 1954 auf eine Mine trat und starb, sowie seine berühmten Porträts etwa von Picasso, der den Strandschirm über seine Freundin Francoise Gilo hält, gehören zu den meistpublizierten der Fotogeschichte.
Nun mag es gegen die Authentizität des PCE-Fundus Einwände geben. Der österreichische Fotograf Erich Lessing etwa, der später bei Capas 1947 gegründeter Agentur Magnum arbeitete, schreibt einige Aufnahmen dem Deutschen Walter Reuter zu. Denn die kommunistische französische Zeitschrift „Regards“ publizierte am 26. August 1937 Reuter-Aufnahmen von Propagandaeinheiten, deren Pendants sich ebenfalls im PCE-Archiv finden, dazu Aufnahmen, die den vormaligen Fotografen der „Arbeiter-Illustrierten-Zeitung“ zusammen mit Milizionären zeigen. Dabei ist jedoch überliefert, dass mindestens Capa, Taro und Seymour ihre Fotos gemeinsam an die Publikationen übermittelten und die Autorenschaft nicht penibel überwachten. Zudem belegen Notizen auf einigen Abzügen, die mit der Sammlung an die PCE gelangten, dass Capa viele Aufnahmen mindestens in der Hand hatte: „Pays basque“ steht auf der Rückseite des Fotos eines zerstörten baskischen Hauses in derselben Handschrift, die in einem Ausstellungskatalog der Landesregierung Valencias von 1987 neben autorisierten Capa-Fotos aus Bilbao auftaucht und dem Reporter zugeschrieben ist. Im Katalog stimmen überdies 56 Motive mit Negativen aus dem PCE-Archiv überein.
„Die Aufnahmen sind mit über 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit von Capa selbst“, sagt auch die Foto-Konservatorin der staatlichen Stiftung Reina Sofia für zeitgenössische Kunst, Catherine Coleman. „Es sind fantastische Aufnahmen, und sie sind mit demselben Licht, derselben Technik und demselben künstlerischen Blick entstanden wie die Fotos, die wir von Capa kennen.“ Coleman hatte sich die Sammlung bereits vor Jahren begeistert angesehen, indessen kam das Museum auf die Bilder nie zurück. Auch das spanische Außenministerium zeigte Interesse an den Fotos, zur Publikation kam es jedoch nicht. Capa-Biograf Richard Whelan wollte sich die Fotos nicht einmal ansehen.
„Der Fall ist heikel“, sagt Coleman. „Capas Bruder Cornell hat die Rechte an seinem Nachlass, und niemand möchte sich da die Finger verbrennen.“ Wollen die Capa-Erben den Schatz ignorieren, damit die Preise für den autorisierten Nachlass nicht fallen? Meidet man die PCE-Sammlung, um der Stiftung ein Geschäft vorzuenthalten? Oder ist es das Desinteresse an der schmerzlichen Vergangenheit Spaniens?
Sicher ist: Die spanischen Mittel reichen für eine intensive Erforschung nicht aus. Der Staat gibt nur minimale Hilfen für die Kulturarbeit der politischen Stiftungen – 3,6 Millionen Euro, proportional aufgeteilt nach Sitzen im Palament. Die Capa-Fotos dürften also bis auf weiteres in den Magazinen verstauben.
Quelle: Die Welt, 13.6.2003
Beim Rathausabbruch irrte Pesserl
Schwandorf. Eigentlich hatte der Oberstudiendirektor a. D. Franz Sichler seine Dokumentation zur Geschichte der Schwandorfer Rathaushäuser nahezu abgeschlossen. Plötzlich aber folgte dann ein Paukenschlag: Stadtarchivar Josef Fischer fand alte Unterlagen, die es erforderlich machten, bisher Unbekanntes einzufügen.
Die Geschichte der Schwandorfer Rathäuser beschäftigt den langjährigen Stadtrat Franz Sichler seit geraumer Zeit. Er trug Fakten zusammen, sammelte Daten, sah in alten Unterlagen nach und schrieb seine Erkenntnisse in einer Dokumentation nieder. Sichler war fast fertig damit, als Archivar Josef Fischer ein altes Aktenbündel aus dem Jahr 1808 fand. Insgesamt dreizehn Protokolle, Abschriften, Beschlüsse, Bekanntmachungen und Aktennotizen enthielt dieses Konvolut bemerkenswerter Papiere.
Die Unterlagen beschäftigen sich mit dem Abbruch des ehemaligen historischen Rathauses, das auf dem unteren Marktplatz stand und allem Anschein nach gut 18 Meter hoch war. Bisher war durch den Schwandorfer Chronisten Pesserl angenommen und überliefert worden, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts das Stadtarchiv mit Ausnahme wichtigster Urkunden alle anderen Unterlagen zur gewerblichen Verwertung abgegeben habe. Dies ist durch den Fund widerlegt. Mehr noch: Pesserl, 1804 geboren und damit vier Jahre vor dem Abbruch des historischen Rathauses am Marktplatz zur Welt gekommen, war in seinen Aufzeichnungen zu der Ansicht gelangt, eine „rege gewordene Neuerungssucht“ habe den Abbruch beschließen lassen. Aus den nun zur Verfügung stehenden Dokumenten geht aber hervor, dass dieser Abriss wegen drohender Einsturzgefahr zwingend erforderlich geworden war. „Dies“, sagte gestern Franz Sichler in Gegenwart von Oberbürgermeister Helmut Hey und Archivar Josef Fischer, „ist genau das Gegenteil“.
Das gefundene Quellenmaterial liefert außerdem eine Reihe interessanter Nebenaspekte. So sind zwei der Dokumente mit einem aus Papier bestehenden aufgeklebten Siegel versehen. Darauf steht: „Kgl. Baierischer Verwaltungsrath Schwandorf“ samt einem Wappen, das bisher unbekannt war. Außerdem liefern Unterschriften die Namen der Magistratsräte, der Mitglieder des Bürgerausschusses sowie der Maurer und Zimmerer, die ein Gutachten über den baulichen Zustand des Rathauses und die zu ewartenden Abbruchkosten erstellten.
Allerdings gibt es, wie Franz Sichler gestern bedauerte, auch unbeantwortet gebliebene Fragen. Zum Beispiel: Warum wurde am Standort des „historischen Rathauses“ auf dem Marktplatz nicht ein Neubau in diesem Stil errichtet? Ungeklärt, so Sichler, sei auch, wo der Magistrat mit seinen sechs Räten und die 18 Gemeindebevollmächtigten nach Einführung der Gemeindeordnung im Jahre 1818 tagten. Anzunehmen ist wohl, dass dafür das so genannte Ratschreiberhaus ausreichende Räume bot.
Im November diesen Jahres zur Einweihung des neuen Schwandorfer Rathauses will Franz Sichler seine dann abgeschlossene Dokumentation vorlegen.
Quelle: Der Neue Tag, 12.6.2003.
Kontakt:
Stadtarchiv Schwandorf (Bayern)
Stadtverwaltung
Kirchengasse 1
92421 Schwandorf
Postfach 1880
92409 Schwandorf
Tel.: 09431/45-254
Fax: 09431/3597
hauptamt.fischer@schwandorf.de
www.schwandorf.de
Ausstellung „Kompilationen & Databases“ in Bremen
Archive sind selbstlos. Nur dazu da, Dokumente zu speichern, leise, unaufdringlich, umfassend – Bastionen der Seriosität. Bei den Archiven von heute, den Datenbanken hat das Image gelitten: Viel schneller stellt sich bei der digitalen Informationsfülle die Frage: Wer trifft da die Auswahl und nach welchen Kriterien? Die Datenbank ist eine subjektive Angelegenheit. Und „wir wollen die subjektive Ebene dabei sichtbar machen“, sagt Dorothee Richter, Kuratorin der Ausstellung „Kompilationen und Databases“, die am 13.6. um 20 Uhr im Künstlerhaus am Deich eröffnet wird.
Drei Beiträge sollen das Anliegen verdeutlichen: Der französische Künstler Jerome Joy hat eine Jukebox ins Künstlerhaus gestellt, die verschiedenste Sounds von Künstlern und Musikern zugänglich macht – die Kontakte entstanden vor allem über das Internet. Die Bandbreite der Klänge reicht vom verfremdeten Song bis zum zerfurchten Flächensound, bereitgestellt beispielsweise von Martin Kippenberger oder Funkmeister G oder von unbekannt unter dem Titel „Stockhausen Remixed“.
Der Filmemacher Florian Wüst hat für die Schau ein Filmprogramm zusammengestellt: Fünf Kurzfilme aus den Niederlanden, Belgien, Großbritannien und China untersuchen unter der Überschrift „Der Fortschritt, die Stadt und die Arbeit“ den Zusammenhang zwischen technischer Entwicklung und Veränderung der Lebensumstände in den Städten.
Letzter möchte Marion Bösen erobern mit ihren Fotos, die sie als Aufkleber in der Auflage von 400 Stück dem Publikum zur freien Verwendung zur Verfügung stellt. Zu sehen ist auf den Bildern das immer gleiche Motiv in Variationen: Bösen hat an gespreizten Beinen vorbei Vaginas im Alltag fotografiert, und das heißt: Bekleidet mit Slips. Kuratorin Richter: „Es ist ein Spiel mit dem Voyeurismus.“
Die Ausstellung „Kompilationen & Databases“ läuft bis zum 13.7.2003 im Künstlerhaus Am Deich (Bremen).
Kontakt:
Künstlerhaus Bremen
Am Deich 68/69 28199 Bremen
Fon: 0421 – 50 85 98 | Fax: 0421 – 50 83 05
kuenstlerhb@t-online.de
www.kuenstlerhausbremen.de
Quelle: TAZ Bremen, 13.6.2003.
Das Berliner Tagebuch einer Unbekannten
So kamen die Russen, die Befreier, zu den Bewohnern Berlins: „breite Rücken, Lederjacken, hohe Lederstiefel … pralle Breitschädel, kurzgeschoren, wohlgenährt, unbekümmert“. So hat eine Frau, Anfang dreißig, sie am Freitag, den 27. April 1945, gesehen. Als sie am folgenden Samstag daran geht, ihre Erlebnisse zu notieren, ist sie von mehreren Sowjetsoldaten vergewaltigt worden. Die Schlagzeilen des „Völkischen Beobachters“ hatten die Angst davor systematisch geschürt, Schändungen waren Kellergespräch: „Allerlei Geschichten kursieren. Frau W. ruft: ,Lieber ein Russki auf’m Bauch als ein Ami auf’m Kopf.‘ Ein Witz, der schlecht zu ihrem Trauerkrepp paßt. Fräulein Behn kräht durch den Keller: ,Nu woll’n wir doch mal ehrlich sein – Jungfern sind wir wohl alle nicht mehr‘. Sie bekommt keine Antwort.“
Das Tagebuch der jungen Frau, das jetzt in der „Anderen Bibliothek“ wieder aufgelegt worden ist, gehört zu den merkwürdigsten Dokumenten der Nachkriegszeit. Es beginnt am letzten Geburtstag des Führers, „an dem Tag, als Berlin zum ersten Mal der Schlacht ins Auge sah“ und endet am 22. Juni 1945. Hellsichtiger, konzentrierter, intelligenter als hier sind die ersten Wochen des Kriegsendes wohl nirgends beschrieben worden, und doch umgibt eine Aura der Ungewissheit dieses Tagebuch. Die Autorin ist unbekannt, die Textgeschichte nur lückenhaft dokumentiert, das Geschehen im Berliner Irgendwo lokalisiert.
Als „bloß privates Gekritzel, damit ich was zu tun habe“, hat die junge Frau ihr Tagebuch gegenüber neugierigen Fragen im Luftschutzkeller verteidigt. Drei dicht beschriebene Schulhefte mit eingelegten Zetteln sind daraus geworden. Im Juli 1945 begann sie, ihre Aufzeichnungen mit der Schreibmaschine zu tippen, auszuformulieren. Nach Auskunft des Vorworts, von dem nicht verraten wird, wer es verfasste, „entstanden auf grauem Kriegspapier 121 engzeilige Maschinenseiten“. Dieses Manuskript kam auch in die Hände des Schriftstellers Kurt W. Marek, eines Bekannten der Schreiberin. Er nahm sich des Textes an und sorgte für eine Ausgabe in den USA.
Das muss verwundern, schließlich verfügt Kurt W. Marek über glänzende Kontakte zur deutschen Verlagswelt. Als freier Kritiker hatte er seine Karriere 1932 begonnen, schrieb im Dritten Reich für die „Koralle“ und die „Berliner Illustrierte Zeitung“. 1938 zur Wehrmacht eingezogen, war er Kriegsberichterstatter an der Ostfront, in Norwegen und Italien, wurde bei Monte Cassino verwundet, kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach Kriegsende wurde er Redakteur der Welt und Cheflektor des Rowohlt- Verlages. 1949 erschien unter dem Decknamen C. W. Ceram sein Sachbuch- Bestseller „Götter, Gräber und Gelehrte“. Hauptsächlich wohl aus steuerlichen Gründen übersiedelte Marek in die USA, wo 1954 auch „A Woman in Berlin“ erstmals erschien, mit einem Nachwort Cerams versehen.
Übersetzungen ins Schwedische, Norwegische, Holländische, Dänische, Italienische, Ausgaben in Japan, Spanien, Frankreich und Finnland folgten. Die erste deutsche Ausgabe kam 1959 bei Helmut Kossodo (Genf und Frankfurt am Main) heraus und fiel durch. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wollte man diese Tagebuch-Aufzeichnungen nicht lesen.
Der Text, den der heutige Leser in seinen Händen hält, ist mehrfach überarbeitet worden. Es handelt sich keineswegs um Kritzeleien, niedergeschrieben in der Not des Augenblicks, sondern um einen gekonnt komponierten, um spätere Reflexionen ergänzten Bericht. Verändert hat ihn die Autorin, als sie 1945 ihr Tagebuch für einen Freund abschrieb, verändert wurden für die Buchausgabe „sämtliche Namen und zahlreiche Details“. Das Manuskript liegt heute bei der Witwe Kurt W. Mareks. Die Autorin, die unerkannt bleiben wollte, hat ihn vor ihrem Tode noch einmal durchgesehen. Dieses korrigierte Manuskript war die Textgrundlage für die Neuausgabe in der „Anderen Bibliothek“, in der die doch ausschlaggebende Textgeschichte höchst beiläufig behandelt wird.
Die gebildete, äußerst sprachbegabte Autorin, hatte wohl gute Kontakte zur Berliner Verlags- und Zeitungswelt. Viele Länder Europas hat sie bereist, darunter auch den europäischen Teil der Sowjetunion, sie kannte Moskau unter Stalin, und sie sprach russisch. Das hebt ihren Bericht heraus. Die Fahrräder und Uhren stehlenden, Lebensmittel verteilenden, vergewaltigenden Sowjetsoldaten erscheinen hier nicht allein als Männer, die aus dem Dunkel auftauchen und „Frau komm!“ rufen. Sie haben Namen und Biographien: Petka, Anatol, Andrej, ein weißblonder Leutnant, ein Major. Mit der gleichbleibend kalter Aufmerksamkeit werden das Verhalten der Deutschen und das Treiben der Sieger charakterisiert.
Als ein Matrose die Verfasserin bitte, ihm ein sauberes, ordentliches Mädchen zu besorgen, notiert sie: „Das ist denn doch die Höhe. Jetzt fordern sie von ihren besiegten Lustobjekten bereits Sauberkeit und Bravheit und einen edlen Charakter! Fehlt bloß noch ein polizeiliches Führungszeugnis, ehe man sich für sie hinlegen darf!“ Über eine Likörfabrikantin, hinter der die Russen ihrer Leibesfülle wegen oft hinterher waren, schreibt sie: „Die Likörfabrikantin freilich hat keine Not gelitten. Sie hat den ganzen Krieg hindurch was zum Tauschen gehabt. Nun muß sie ihr ungerechtes Fett bezahlen.“ Für die fünfziger Jahre, in denen man gern verschwiemelt-tiefsinnig über Krieg und Nationalsozialismus sprach, war das wohl zu deutlich.
Etwa 110 000 von den 1,4 Millionen Frauen Berlins sind nach Schätzungen – genaue Untersuchungen fehlen immer noch – zwischen Frühsommer und Herbst 1945 vergewaltigt worden. Rasche Abtreibungen hatten die Nationalsozialisten noch geplant, „um unerwünschten mongolischen und slawischen Nachwuchs zu verhindern“. Glauben wir dem anonymen Bericht, hätte allein durch Vernichtung der Alkoholvorräte viel Gewalt verhindert werden können.
„Trotz zahlreicher Befehle, in denen die Beschlagnahme verschiedener lebenswichtiger Ausstattung der Bevölkerung, die Durchführung eigenmächtiger Hausdurchsuchungen, Gewalttätigkeit und Vergewaltigungen sowie andere Willkürakte kategorisch verboten wurden, führen einzelne Armeeangehörige dieses schändliche Verhalten bis heute fort“, beginnt der Befehl Nr. 180, den der erste Berliner Stadtkommandant, Nikolai Bersarin, als Oberkommandierender der 5. Stoßarmee am 7. Mai zur „Organisation des Patrouillendienstes“ erließ. Aber selbst drakonische Strafen setzten der von vielen Kommandeuren geduldeten oder ermutigten Gewaltorgie kein Ende.
Anfang Mai hatten sich schon feste Verkehrsformen herausgebildet. Um nicht zum Opfer eines jeden zu werden, hatte sich die junge Frau einen Major als Beschützer zugelegt, der sie mit Lebensmitteln versorgte. „Er sang wieder, leise, melodisch, ich höre es gern. Er ist redlich, reinen Wesens, aufgeschlossen. Aber fern und fremd und so unausgebacken. Wir sind Westler alt und überklug – und sind jetzt doch Schmutz unter ihren Stiefeln.“
Das Tagebuch endet, als Gerd, der geliebte Freund der Verfasserin, von der Front kommt und sie ihm ihre Aufzeichnungen zu lesen gibt. Er will nicht wissen, was geschehen ist, stößt sich an der „Schamlosigkeit“, flieht ins Schweigen – und nimmt damit individuell die Jahrzehnte kollektiven Beschweigens vorweg. Dies hatte selbstverständlich auch politische Gründe, schließlich waren Vergewaltigungen und Plünderungen ein Lieblingsthema der verbohrten Rechten, die durch Aufrechnung den NS-Terror rechtfertigen wollte. Dass wenig über die tatsächlichen Erfahrungen der ersten Friedenstage gesprochen wurde, dürfte aber mindestens ebenso an der kläglichen Rolle liegen, die deutsche Männer dabei spielten. „In der Pumpenschlange erzählte eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: ,Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!‘ Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes.“
Wie darüber vernünftig zu reden wäre, kann man an diesem Bericht lernen: mitleidlos gegenüber Kollektiven und Gruppen, aufmerksam auf Hilfskonstruktionen und Lügen, mit denen einzelne ihr Durchwursteln rechtfertigen, genau in der Dokumentation individuellen Leids. Es wäre zu wünschen, dass eines Tages eine textkritische Ausgabe dieser einzigartigen Tagebuch-Aufzeichnungen erscheint.
Info:
Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945.
Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003.
291 Seiten, 27,50 Euro.
Quelle: SZ vom 10.6.2003
Archive gegen digitales Alzheimer
Insgesamt 800.000 Euro stellt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) jetzt zur Entwicklung eines virtuellen Archivs bereit. Das dreijährige Projekt unter Federführung der Deutschen Bibliothek in Frankfurt dient der Erhaltung digitaler Dokumente und soll bis Mai 2006 unter Berücksichtigung entsprechender Initiativen im Ausland eine bundesweit einheitliche Strategie zur Sicherung und Langzeit-Verfügbarkeit von digitalen Publikationen erarbeiten.
Das „Kompetenznetzwerk für Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit digitaler Ressourcen in Deutschland“ wird sich unter anderem auf Auswahlverfahren für die erhaltenswerten Quellen, Grundsätze zur Einbindung der Museen und Archive, Kriterien für die Vertrauenswürdigkeit digitaler Archive und Zertifizierungsverfahren für Archivserver konzentrieren. Darüberhinaus sollen Daueraufgaben definiert und unter den Archivbibliotheken in Deutschland abgestimmt werden.
Die Furcht vor dem Gedächtnisverlust plagt nicht nur hierzulande. Vergleichbare Aktivitäten gibt es beispielsweise mit dem „National Digital Information Infrastructure and Preservation Program“ in den USA, dem Pandora-Archiv in Australien, dem gemeinsamen „Nordic Web Archive“ der skandinavischen Länder und der britischen „Digital Preservation Coalition„. (Heise/c't)
OB Krüger: Stasi-Akten gehören der Region
Neubrandenburg (rw). Das Kostenargument für die Schließung der Außenstelle Neubrandenburg der Behörde für die Stasi-Unterlagen lässt Oberbürgermeister Paul Krüger (CDU) nicht gelten. Er ist sich sicher, dass die Akten kostengünstig auch in der Viertorestadt zu verwahren seien. Krüger denkt beispielsweise an das Medienzentrum, das im HKB eingerichtet werden soll. Das habe er auch Behördenchefin Marianne Birthler in einem Gespräch versichert. Wie der OB gegenüber unserer Zeitung erläuterte, soll das Medienzentrum ja gerade regionale Archive speichern und zugänglich machen. Im übrigen, so Krüger, gehörten die Stasiakten der Bezirksverwaltung in die Region und müssten dort auch bleiben. „Ich will gar nicht zulassen, dass sie nach Rostock verschwinden“, kündigte Krüger Widerstand gegen die Pläne der Behörde an. Dezentralisierung sei schließlich der aktuelle Trend. Gegenüber den Bürgern, die Akteneinsicht nehmen wollten, sei es nicht vertretbar, dass sie bis nach Rostock fahren sollten. Das wäre auch ökologischer Unsinn. Schwerwiegend sei auch der Verlust der Arbeitsplätze für Neubrandenburg. Es gehe Kaufkraft verloren, was wiederum bewirke, dass weitere Arbeitsplätze verloren seien. Oberbürgermeister Paul Krüger hat im Gespräch mit Marianne Birthler erfahren, dass die Landesregierung in die Entscheidung der Behörde, den Standort Neubrandenburg zu schließen und in Rostock zu zentralisieren, nicht einbezogen worden ist. Das hält er „gerade bei einer raumordnerischen Frage für mehr als merkwürdig“. Doch nun erwarte er von Schwerin, dass sich die Regierung wenigstens hinterher äußere, sich in die Bresche schmeiße und zwar für Neubrandenburg. „Es kann nicht sein, dass die Mecklenburgische Seenplatte immer wieder benachteiligt wird.“ Seine Argumente will Krüger der Behördenchefin auch noch in einem Brief vortragen. Zuvor wolle er den Regionalen Planungsverband „Mecklenburgische Seenplatte“, dessen Vorsitzender der OB ist, mobilisieren. Er hofft auf die Unterstützung der Landräte. Das sei schließlich nicht eine Sache der Stadt allein, sondern der gesamten Region.
Quelle: Nordkurier vom 10.6.2003
„Gelassenheit und Schaffensfreude“ im neuen Archivlesesaal von Weimar
Weimar (tlz). Blumen über Blumen und originelle Präsente waren äußeres Zeichen der hohen Wertschätzung, die Professor Volker Wahl, Direktor des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar anlässlich seines 60. Geburtstages entgegengebracht wurde. Und weil der Empfang zu Ehren des Jubilars im fast fertiggestellten neuen Archivlesesaal in der ehemaligen Reithalle des Marstalls stattfand, wohnten die zahlreichen Gäste, darunter Weimars Prominenz aus Kultur und Archivwesen, gleichzeitig einer Premiere bei. In lichter Funktionalität und bislang nicht gekannter Großzügigkeit öffnen sich den Nutzern des Archivs ab August optimale Arbeitsmöglichkeiten. „Der Marstall ist noch nicht fertig“, dämpfte Dr. Hermann Post, stellvertretender Archivdirektor, hochfliegende Erwartungen. Viel Geduld sei erforderlich, das „Schlachtschiff Thüringer Archive“ sicher in die Zukunft zu manövrieren. „Eine große Herausforderung für den Mann auf der Brücke“, anerkannte Post. Die „Mannschaft“ und befreundete Archivare dankten dem umsichtigen Steuermann mit einer „Kommandobrücke“ klassischer Provenienz, mit einem Nachbau von Schillers Stehpult. Gefertigt aus Kiefernholz, durch entsprechende Farbigkeit in warmem Zimtton optisch aufgewertet, erst der fünfte Nachbau überhaupt nach einem alten Scherenschnitt, den Restaurator Eberhard Burkhard, Jena, wissenschaftlich ausgewertet hatte. Weiterhin „Gelassenheit und Schaffensfreude“ wünschte Dr. Hans Ammerich vom Verband deutscher Archivarinnen und Archivare dem VdA-Vorsitzenden.
Der Jubilar selbst dankte für so viel Aufmerksamkeit mit einem launigen Exkurs über Archivare und Archivbenutzer als Fabelwesen der Literatur („Der Archivar ist nicht dazu da, jedem Esel das Heu auf die Raufe zu stecken. Gotthold Ephraim Lessing“). Wie der Archivdirektor ankündigte, werden noch etwa zwei Monate benötigt, „bis der zweite Bauabschnitt mit den Büro- und Bibliotheksräumen im südlichen Westflügel, dem Tiefmagazin im Marstallinnenhof und dem neuen Lesesaalgebäude in der ehemaligen Reithalle endgültig abgeschlossen ist.“ Professor Volker Wahl, am 10. Juni 1943 in Steinbach-Hallenberg geboren, ist seit zwölf Jahren Leiter des Hauptstaatsarchivs.
Quelle: Thüringische Landeszeitung vom 10. Juni 2003