Madrid. Weil der Blick zurück noch schmerzt, bleiben die dunklen Kapitel der jüngeren spanischen Geschichte bis heute aus der öffentlichen Debatte weitgehend ausgespart. Abgesehen von vereinzelten Ausstellungen und Publikationen, haftet der Beschäftigung mit Bürgerkrieg und Franco-Diktatur seit dem Schweigegebot der Demokratisierung der Ruf des Tabubruchs an. Unterdessen lagern Hunderttausende Bild- und Tonzeugnisse in den Archiven von Parteien und Stiftungen sowie in privaten Sammlungen.
Einer der besonderen Schätze befindet sich im Archiv der Kommunistischen Partei (PCE): Eine Sammlung von 1.338 Negativen aus dem Bürgerkrieg (1936-1939), mutmaßlich von dem berühmten Kriegsreporter Robert Capa. Wann und wie sie an die PCE gelangte, die ihr Archiv während der Diktatur ins Ausland verlagern musste und erst 1977 wieder zugelassen wurde, ist strittig, ebenso wie ihr Wert. Die entwickelten Negative sind von außerordentlicher ästhetischer sowie handwerklicher Qualität: Frontszenen, Kundgebungen, Feldlager, Leichenhallen, Porträts, Aufmärsche, Propagandaplakate der republikanischen Streitkräfte und der Internationalen Brigaden – alle diese Capa-Themen finden sich hier wieder, und das Frappierende daran ist: Die Aufnahmen entstanden vielfach mit der gleichen Kamera (Leica mit 35 mm-Objektiv), an denselben Orten und zur selben Tageszeit wie die autorisierten Capa-Bilder. Manche Fotos zeigen sogar dieselben Motive nur wenige Augenblicke zeitlich von offiziellen Capa-Fotos versetzt. „Wenn es nicht Capa selbst war, dann doch jemand, der dieselbe Kamera hatte und sich stets in seiner Nähe befand wie seine Freundin Gerda Taro oder sein Kollege David 'Chim' Seymour“, sagt die Archivarin Victoria Ramos.
Der ungarische Jude Capa, bürgerlich André Friedmann, hatte sich gerade durch Spanien einen internationalen Ruf erworben. Sein Foto eines tödlich getroffenen Milizionärs für die französische Zeitschrift „Vu“ machte den 1913 in Budapest geborenen Autodidakten über Nacht berühmt. Erstmals in der Kriegsreportage galt der Blick des Mannes mit dem Leitsatz: „Wenn das Foto nicht gut genug, ist, dann war ich nicht nahe genug dran“ nicht den Uniformen, Aufmärschen und Schlachtszenen, sondern vor allem dem Menschen hinter der Waffe und den Zivilisten hinter der Front. Das brachte seinen Arbeiten auch die Honorare ein, die er zuvor durch den Marketing-Schwindel seines Pariser Zwei-Mann-Studios ergaunerte: Zusammen mit der Polin Taro – bürgerlich Pohorylles – als Sekretärin entwickelte sein kleines Labor angeblich nur die Aufnahmen eines berühmten amerikanischen Fotografen Robert Capa. Nach der Enthüllung wurde der Name zum Pseudonym und seine Arbeiten aus Spanien – wo Taro im Juli 1937 von einem Panzer überrollt wurde -, seine Fotos von der US-Invasion in der Normandie, aus Indochina, wo der Fotograf 1954 auf eine Mine trat und starb, sowie seine berühmten Porträts etwa von Picasso, der den Strandschirm über seine Freundin Francoise Gilo hält, gehören zu den meistpublizierten der Fotogeschichte.
Nun mag es gegen die Authentizität des PCE-Fundus Einwände geben. Der österreichische Fotograf Erich Lessing etwa, der später bei Capas 1947 gegründeter Agentur Magnum arbeitete, schreibt einige Aufnahmen dem Deutschen Walter Reuter zu. Denn die kommunistische französische Zeitschrift „Regards“ publizierte am 26. August 1937 Reuter-Aufnahmen von Propagandaeinheiten, deren Pendants sich ebenfalls im PCE-Archiv finden, dazu Aufnahmen, die den vormaligen Fotografen der „Arbeiter-Illustrierten-Zeitung“ zusammen mit Milizionären zeigen. Dabei ist jedoch überliefert, dass mindestens Capa, Taro und Seymour ihre Fotos gemeinsam an die Publikationen übermittelten und die Autorenschaft nicht penibel überwachten. Zudem belegen Notizen auf einigen Abzügen, die mit der Sammlung an die PCE gelangten, dass Capa viele Aufnahmen mindestens in der Hand hatte: „Pays basque“ steht auf der Rückseite des Fotos eines zerstörten baskischen Hauses in derselben Handschrift, die in einem Ausstellungskatalog der Landesregierung Valencias von 1987 neben autorisierten Capa-Fotos aus Bilbao auftaucht und dem Reporter zugeschrieben ist. Im Katalog stimmen überdies 56 Motive mit Negativen aus dem PCE-Archiv überein.
„Die Aufnahmen sind mit über 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit von Capa selbst“, sagt auch die Foto-Konservatorin der staatlichen Stiftung Reina Sofia für zeitgenössische Kunst, Catherine Coleman. „Es sind fantastische Aufnahmen, und sie sind mit demselben Licht, derselben Technik und demselben künstlerischen Blick entstanden wie die Fotos, die wir von Capa kennen.“ Coleman hatte sich die Sammlung bereits vor Jahren begeistert angesehen, indessen kam das Museum auf die Bilder nie zurück. Auch das spanische Außenministerium zeigte Interesse an den Fotos, zur Publikation kam es jedoch nicht. Capa-Biograf Richard Whelan wollte sich die Fotos nicht einmal ansehen.
„Der Fall ist heikel“, sagt Coleman. „Capas Bruder Cornell hat die Rechte an seinem Nachlass, und niemand möchte sich da die Finger verbrennen.“ Wollen die Capa-Erben den Schatz ignorieren, damit die Preise für den autorisierten Nachlass nicht fallen? Meidet man die PCE-Sammlung, um der Stiftung ein Geschäft vorzuenthalten? Oder ist es das Desinteresse an der schmerzlichen Vergangenheit Spaniens?
Sicher ist: Die spanischen Mittel reichen für eine intensive Erforschung nicht aus. Der Staat gibt nur minimale Hilfen für die Kulturarbeit der politischen Stiftungen – 3,6 Millionen Euro, proportional aufgeteilt nach Sitzen im Palament. Die Capa-Fotos dürften also bis auf weiteres in den Magazinen verstauben.
Quelle: Die Welt, 13.6.2003