So kamen die Russen, die Befreier, zu den Bewohnern Berlins: „breite Rücken, Lederjacken, hohe Lederstiefel … pralle Breitschädel, kurzgeschoren, wohlgenährt, unbekümmert“. So hat eine Frau, Anfang dreißig, sie am Freitag, den 27. April 1945, gesehen. Als sie am folgenden Samstag daran geht, ihre Erlebnisse zu notieren, ist sie von mehreren Sowjetsoldaten vergewaltigt worden. Die Schlagzeilen des „Völkischen Beobachters“ hatten die Angst davor systematisch geschürt, Schändungen waren Kellergespräch: „Allerlei Geschichten kursieren. Frau W. ruft: ,Lieber ein Russki auf’m Bauch als ein Ami auf’m Kopf.‘ Ein Witz, der schlecht zu ihrem Trauerkrepp paßt. Fräulein Behn kräht durch den Keller: ,Nu woll’n wir doch mal ehrlich sein – Jungfern sind wir wohl alle nicht mehr‘. Sie bekommt keine Antwort.“
Das Tagebuch der jungen Frau, das jetzt in der „Anderen Bibliothek“ wieder aufgelegt worden ist, gehört zu den merkwürdigsten Dokumenten der Nachkriegszeit. Es beginnt am letzten Geburtstag des Führers, „an dem Tag, als Berlin zum ersten Mal der Schlacht ins Auge sah“ und endet am 22. Juni 1945. Hellsichtiger, konzentrierter, intelligenter als hier sind die ersten Wochen des Kriegsendes wohl nirgends beschrieben worden, und doch umgibt eine Aura der Ungewissheit dieses Tagebuch. Die Autorin ist unbekannt, die Textgeschichte nur lückenhaft dokumentiert, das Geschehen im Berliner Irgendwo lokalisiert.
Als „bloß privates Gekritzel, damit ich was zu tun habe“, hat die junge Frau ihr Tagebuch gegenüber neugierigen Fragen im Luftschutzkeller verteidigt. Drei dicht beschriebene Schulhefte mit eingelegten Zetteln sind daraus geworden. Im Juli 1945 begann sie, ihre Aufzeichnungen mit der Schreibmaschine zu tippen, auszuformulieren. Nach Auskunft des Vorworts, von dem nicht verraten wird, wer es verfasste, „entstanden auf grauem Kriegspapier 121 engzeilige Maschinenseiten“. Dieses Manuskript kam auch in die Hände des Schriftstellers Kurt W. Marek, eines Bekannten der Schreiberin. Er nahm sich des Textes an und sorgte für eine Ausgabe in den USA.
Das muss verwundern, schließlich verfügt Kurt W. Marek über glänzende Kontakte zur deutschen Verlagswelt. Als freier Kritiker hatte er seine Karriere 1932 begonnen, schrieb im Dritten Reich für die „Koralle“ und die „Berliner Illustrierte Zeitung“. 1938 zur Wehrmacht eingezogen, war er Kriegsberichterstatter an der Ostfront, in Norwegen und Italien, wurde bei Monte Cassino verwundet, kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach Kriegsende wurde er Redakteur der Welt und Cheflektor des Rowohlt- Verlages. 1949 erschien unter dem Decknamen C. W. Ceram sein Sachbuch- Bestseller „Götter, Gräber und Gelehrte“. Hauptsächlich wohl aus steuerlichen Gründen übersiedelte Marek in die USA, wo 1954 auch „A Woman in Berlin“ erstmals erschien, mit einem Nachwort Cerams versehen.
Übersetzungen ins Schwedische, Norwegische, Holländische, Dänische, Italienische, Ausgaben in Japan, Spanien, Frankreich und Finnland folgten. Die erste deutsche Ausgabe kam 1959 bei Helmut Kossodo (Genf und Frankfurt am Main) heraus und fiel durch. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges wollte man diese Tagebuch-Aufzeichnungen nicht lesen.
Der Text, den der heutige Leser in seinen Händen hält, ist mehrfach überarbeitet worden. Es handelt sich keineswegs um Kritzeleien, niedergeschrieben in der Not des Augenblicks, sondern um einen gekonnt komponierten, um spätere Reflexionen ergänzten Bericht. Verändert hat ihn die Autorin, als sie 1945 ihr Tagebuch für einen Freund abschrieb, verändert wurden für die Buchausgabe „sämtliche Namen und zahlreiche Details“. Das Manuskript liegt heute bei der Witwe Kurt W. Mareks. Die Autorin, die unerkannt bleiben wollte, hat ihn vor ihrem Tode noch einmal durchgesehen. Dieses korrigierte Manuskript war die Textgrundlage für die Neuausgabe in der „Anderen Bibliothek“, in der die doch ausschlaggebende Textgeschichte höchst beiläufig behandelt wird.
Die gebildete, äußerst sprachbegabte Autorin, hatte wohl gute Kontakte zur Berliner Verlags- und Zeitungswelt. Viele Länder Europas hat sie bereist, darunter auch den europäischen Teil der Sowjetunion, sie kannte Moskau unter Stalin, und sie sprach russisch. Das hebt ihren Bericht heraus. Die Fahrräder und Uhren stehlenden, Lebensmittel verteilenden, vergewaltigenden Sowjetsoldaten erscheinen hier nicht allein als Männer, die aus dem Dunkel auftauchen und „Frau komm!“ rufen. Sie haben Namen und Biographien: Petka, Anatol, Andrej, ein weißblonder Leutnant, ein Major. Mit der gleichbleibend kalter Aufmerksamkeit werden das Verhalten der Deutschen und das Treiben der Sieger charakterisiert.
Als ein Matrose die Verfasserin bitte, ihm ein sauberes, ordentliches Mädchen zu besorgen, notiert sie: „Das ist denn doch die Höhe. Jetzt fordern sie von ihren besiegten Lustobjekten bereits Sauberkeit und Bravheit und einen edlen Charakter! Fehlt bloß noch ein polizeiliches Führungszeugnis, ehe man sich für sie hinlegen darf!“ Über eine Likörfabrikantin, hinter der die Russen ihrer Leibesfülle wegen oft hinterher waren, schreibt sie: „Die Likörfabrikantin freilich hat keine Not gelitten. Sie hat den ganzen Krieg hindurch was zum Tauschen gehabt. Nun muß sie ihr ungerechtes Fett bezahlen.“ Für die fünfziger Jahre, in denen man gern verschwiemelt-tiefsinnig über Krieg und Nationalsozialismus sprach, war das wohl zu deutlich.
Etwa 110 000 von den 1,4 Millionen Frauen Berlins sind nach Schätzungen – genaue Untersuchungen fehlen immer noch – zwischen Frühsommer und Herbst 1945 vergewaltigt worden. Rasche Abtreibungen hatten die Nationalsozialisten noch geplant, „um unerwünschten mongolischen und slawischen Nachwuchs zu verhindern“. Glauben wir dem anonymen Bericht, hätte allein durch Vernichtung der Alkoholvorräte viel Gewalt verhindert werden können.
„Trotz zahlreicher Befehle, in denen die Beschlagnahme verschiedener lebenswichtiger Ausstattung der Bevölkerung, die Durchführung eigenmächtiger Hausdurchsuchungen, Gewalttätigkeit und Vergewaltigungen sowie andere Willkürakte kategorisch verboten wurden, führen einzelne Armeeangehörige dieses schändliche Verhalten bis heute fort“, beginnt der Befehl Nr. 180, den der erste Berliner Stadtkommandant, Nikolai Bersarin, als Oberkommandierender der 5. Stoßarmee am 7. Mai zur „Organisation des Patrouillendienstes“ erließ. Aber selbst drakonische Strafen setzten der von vielen Kommandeuren geduldeten oder ermutigten Gewaltorgie kein Ende.
Anfang Mai hatten sich schon feste Verkehrsformen herausgebildet. Um nicht zum Opfer eines jeden zu werden, hatte sich die junge Frau einen Major als Beschützer zugelegt, der sie mit Lebensmitteln versorgte. „Er sang wieder, leise, melodisch, ich höre es gern. Er ist redlich, reinen Wesens, aufgeschlossen. Aber fern und fremd und so unausgebacken. Wir sind Westler alt und überklug – und sind jetzt doch Schmutz unter ihren Stiefeln.“
Das Tagebuch endet, als Gerd, der geliebte Freund der Verfasserin, von der Front kommt und sie ihm ihre Aufzeichnungen zu lesen gibt. Er will nicht wissen, was geschehen ist, stößt sich an der „Schamlosigkeit“, flieht ins Schweigen – und nimmt damit individuell die Jahrzehnte kollektiven Beschweigens vorweg. Dies hatte selbstverständlich auch politische Gründe, schließlich waren Vergewaltigungen und Plünderungen ein Lieblingsthema der verbohrten Rechten, die durch Aufrechnung den NS-Terror rechtfertigen wollte. Dass wenig über die tatsächlichen Erfahrungen der ersten Friedenstage gesprochen wurde, dürfte aber mindestens ebenso an der kläglichen Rolle liegen, die deutsche Männer dabei spielten. „In der Pumpenschlange erzählte eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: ,Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!‘ Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes.“
Wie darüber vernünftig zu reden wäre, kann man an diesem Bericht lernen: mitleidlos gegenüber Kollektiven und Gruppen, aufmerksam auf Hilfskonstruktionen und Lügen, mit denen einzelne ihr Durchwursteln rechtfertigen, genau in der Dokumentation individuellen Leids. Es wäre zu wünschen, dass eines Tages eine textkritische Ausgabe dieser einzigartigen Tagebuch-Aufzeichnungen erscheint.
Info:
Eine Frau in Berlin. Tagebuch-Aufzeichnungen vom 20. April bis zum 22. Juni 1945.
Mit einem Nachwort von Kurt W. Marek.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003.
291 Seiten, 27,50 Euro.
Quelle: SZ vom 10.6.2003