Anstatt um einen Sensationsfund mit Nibelungenlied-Textstellen handelt es sich bei den im Kloster Zwettl gefundenen Fragmenten mit mittelhochdeutschem Text nur um typische Einbandmakulatur. Dies stellt nun noch einmal Joachim Heinzle, Professor für Deutsche und Germanische Philologie des Mittelalters an der Philipps-Universität Marburg, in einem Beitrag für die FAZ vom 16. April klar. Demzufolge stammen die entdeckten Textsplitter auch nicht aus dem 12., sondern aus dem zweiten Viertel bis der Mitte des 13. Jahunderts, wie die Münchner Germanistin und Kodikologin Karin Schneider herausgefunden habe. Zudem habe der Text nichts mit der Nibelungensage zu tun, sondern sei vielmehr Text aus dem Erec-Roman. Dies gehe zweifelsfrei aus Namen wie Enyde oder Karsinefide, aus den Handlungszusammenhängen und aus dem Wortlaut einzelner Verse hervor. Der französische Roman vom Königssohn Erec und seiner Frau Enite wurde um 1170 von Chrestien de Troyes verfasst und ist der erste Roman von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde. Es existieren zwei bekannte mittelhochdeutsche Fassungen des Erec-Romans, ohne dass ihre Beziehung bislang geklärt wäre. Die Zwettler Fragmente führen in dieser Hinsicht nun eventuell weiter, da sie enge Übereinstimmungen mit dem Text von Chrestien aufwiesen, wie Heinzle darlegt. Der „Zwettler Erec“ präzisiere jedenfalls die Kenntnisse der Geschichte der mittelhochdeutschen Literatur, da man nunmehr wisse, dass die Rezeption des französischen Erec-Romans in Deutschland vielschichtiger und reicher war, als man bisher annahm.
Im österreichischen Kloster Zwettl waren der Presseagentur APA zufolge bislang vermeintlich unbekannte Fragmente des Nibelungenliedes gefunden worden. Die etwa drei mal acht Zentimeter großen Pergamentstücke sollten zwischen 1189 und 1204 im Umfeld des Passauer Bischofs Wolger aufgezeichnet worden sein. Es hätte sich damit um die bislang älteste Handschrift des mittelhochdeutschen Heldenepos über Siegfried, Krimhild, Gunter, Hagen und den Schatz der Nibelungen gehandelt.
Verschiedene ausführlichere Stellungnahmen hatten im Anschluss an diese Meldung jedoch Zweifel daran geäußert, ob es sich bei dem Fund in Zwettl überhaupt um einen bislang unbekannten Nibelungen-Text handelt:
Die Welt vom 2.4.: „Nibelungen in Schnipseln“ von Ulrich Weinzierl;
FAZ (HP: faz.net) vom 4.4.: „Von mehr als einer Hand geschrieben“ von Charlotte Ziegler;
SZ vom 2.4.: „Ein, zwei, viele Siegfrieds. Was die neuen Fragmente des Nibelungen-Liedes bedeuten“ von Klaus Böldl;
SZ vom 5.4.: „Was wurde hier eigentlich gefunden? Zu den 'Nibelungen'-Fragmenten aus der Stiftsbibliothek Zwettl“ von Nikolaus Henkel;
NZZ vom 9.4.: „Nibelungen-Kampf. Ein Fund weckt Skepsis bei Experten“